Im französischen Atomkraftwerk Fessenheim hat es im April 2014 einen schweren Zwischenfall gegeben. Nach Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung hatte ein Wassereinbruch einen Teil der Leit- und Sicherheitstechnik außer Kraft gesetzt. Rund 3000 Liter Wasser flossen unter anderem in Schaltschränke, in denen die Steuerung der Sicherheitstechnik untergebracht war.
Die Steuerstäbe in Reaktorblock 1 waren zeitweise nicht manövrierbar, eines der beiden Systeme zur Reaktorschnellabschaltung fiel durch den Wassereinbruch aus. Ein Krisenstab entschied, den Reaktor durch Einleitung von Bor in das Kühlwasser notfallmäßig herunterzufahren.
Die französische Atomaufsichtsbehörde, ASN, hatte den Vorfall seinerzeit gegenüber der Öffentlichkeit und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien heruntergespielt und wesentliche Details unterschlagen. So erwähnte die Behörde in ihrer Meldung an die IAEA weder den Ausfall der Steuerstäbe, noch die eingeleitete «Not-Borierung».
Das wahre Ausmaß des Unglücks geht aus einem Schreiben hervor, das die französische Atomaufsichtsbehörde ASN wenige Tage nach dem Unfall an den Leiter des AKW Fessenheim geschrieben hatte. Demnach haben sich am 9. April 2014 offenbar dramatische Szenen in dem Kraftwerk abgespielt. Um 17 Uhr hatte das Bedienpersonal festgestellt, dass beim Befüllen eines Kühlwasserbehälters rund 3000 Liter Wasser ausgelaufen waren. Unter anderem durch die Kabelummantelungen drang das Wasser in verschiedene Etagen und Räume sowie in wichtige Schaltschränke ein. Unmittelbar darauf fiel die komplette Bedienung der Steuerstäbe im Reaktorkern aus. Auch einer der beiden Stränge für die Reaktorschnellabschaltung versagte. Ein umgehend eingesetzter Krisenstab entschied, den Reaktor durch Einleitung von Bor in den Hauptkühlkreislauf zwangsweise herunterzufahren.
WDR und SZ haben dem Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins das Schreiben zur fachlichen Einordnung vorgelegt. Er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei dem Vorfall am 9. April 2014 um ein «sehr ernstes Ereignis» gehandelt hat, bei dem «erhebliche sicherheitstechnische Mängel» an dem AKW Fessenheim zutage getreten seien. Auch wenn sich der Auslöser des Störfalls, die Überflutung einiger Gebäudeteile, im sogenannten nichtnuklearen Bereich des Kraftwerks ereignet habe, sei durch den Ausfall der Steuerstäbe letztlich vor allem der Reaktorkern betroffen gewesen. Für mehrere Minuten, so der frühere Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit (GRS), sei «die Temperatur im Reaktorkern aus dem Ruder gelaufen».
«Infolge der Störung der Signalisierung der Steuerstäbe ist die Mannschaft quasi blind gefahren», so Mertins. Schon der Ursprung des Störfalls offenbare erhebliche Mängel in den Sicherheitsstrukturen des AKW Fessenheim. Alle Atomkraftwerke in der EU sind nach Fukushima im Rahmen des Stresstests angeblich auf den Schutz vor interner Überflutung geprüft worden. In Fessenheim jedoch floss das Wasser — unter anderem durch Kabelummantelungen — in mehrere Räume und in Elektro-Schaltkästen. So etwas dürfe auf keinen Fall passieren, erklärte Mertins. Auch die Einsetzung eines Krisenstabes während des Zwischenfalls deute darauf hin, dass es sich am 9. April 2014 um eine außergewöhnlich ernste Lage gehandelt habe. Und schließlich sei auch das störfallbedingte Herunterfahren des Reaktors durch Zugabe von Bor («Notborierung») äußerst ungewöhnlich. Laut Mertins und anderen Reaktorexperten hat es eine vergleichbare Situation in einem westeuropäischen Atomkraftwerk bislang noch nicht gegeben.
Auf Anfragen von WDR und Süddeutsche Zeitung haben weder die Betreiberfirma EDF, noch die Atomaufsichtsbehörde ASN geantwortet.
Quellen: ots / WDR / Bild: Florival fr (CC BY-SA 3.0)